Heimwärts

 

Sie gingen durch den Gang zwischen den Welten.

Es war wie auf einer großen, gelblich weißen Landstraße, an deren Seiten im Abstand von zwanzig Metern glühend silberne Türme standen. Macros machte eine alles umfassende Geste. »Ihr befindet Euch mitten in einem Geheimnis, das mit jenem der Ewigen Stadt vergleichbar ist - im Gang zwischen den Welten. Wenn man den Weg kennt, kann man hier von Welt zu Welt gelangen.« Er zeigte auf eins der silbernen Rechtecke. »Ein Portal, durch das man in eine Welt hinein- und wieder herauskommen kann. Nur wenige Auserwählte können sie entdecken. Manche finden diesen Trick durch intensives Studium, andere stolpern durch Zufall darüber. Wenn die Wahrnehmung dazu fähig ist, kann man die Türen auf jeder Welt finden. Hinter dieser«, er deutete auf die Tür, an der sie gerade vorbeigingen, »dreht sich eine verbrannte Welt um eine vergessene Sonne.« Dann zeigte er auf eine Tür auf der anderen Seite des Ganges. »Und dort hegt eine Welt, auf der es von Lebewesen nur so wimmelt, auf der es ein Gemisch von Kulturen und Gesellschaften gibt, doch nur eine einzige intelligente Art.« Er blieb einen Moment stehen. »Zumindest wird es dort in unserer Zeit so sein.« Er ging weiter. »In der Zeit, in der wir uns jetzt befinden, glaube ich, gibt es hinter diesen Türen nur heiße Gaswirbel, die langsam dichter und dichter werden.

In der Zukunft jedoch wird der Gang sehr belebt sein, und viele werden zwischen den Welten hin und her reisen und Handel treiben, obwohl es immer noch Welten geben wird, auf denen niemand etwas von diesem Ort weiß.«

Tomas sagte: »Ich wußte auch nichts von diesem Ort.«

»Die Valheru hatten andere Möglichkeiten des Reisens«, antwortete Macros und neigte den Kopf in Ryaths Richtung. »Da sie es nicht nötig hatten, haben die Valheru die Existenz dieses Ganges nie wahrgenommen, obwohl sie dazu sicherlich in der Lage waren. Glück? Ich weiß es nicht, doch durch ihre Unkenntnis wurde vieles nicht zerstört, was ihnen sonst zum Opfer gefallen wäre.«

»Und wie weit dehnt sich dieser Gang aus?« fragte Pug.

»Endlos. Keiner weiß es. Der Gang erscheint gerade, doch er ist gekrümmt, und ginge ich nur ein kurzes Stück voraus, würdet Ihr mich nicht mehr sehen. Entfernung und Zeit haben zwischen den Welten wenig Bedeutung.«

Und er führte sie weiter durch den Gang zwischen den Welten.

 

Pug folgte Macros' Anweisungen, und es gelang ihm, sie wieder in der Zeit nach vorn zu bringen, bis ungefähr in ihre eigene Epoche. Nachdem sie der Zeitfalle der Drachenlords durch Beschleunigung entkommen waren, hatte Pug keine Schwierigkeiten mehr. Die Mechanismen der benötigten Zaubersprüche waren lediglich logische Weiterentwicklungen des einen, mit dem Pug die Zeit beschleunigt hatte. Pug konnte nur ahnen, wann die richtige Zeitspanne verstrichen war, doch Macros hatte ihm versichert, spätestens, wenn sie nach Midkemia eindringen würden, wüßten sie genau, wieviel Zeit noch fehlte.

»Macros, was würde passieren, wenn jemand zwischen den Türen danebentritt?« fragte Pug.

Sie waren weitergegangen, und Pug hatte jede der Türen eingehend betrachtet. Nach einer Weile entdeckte er, daß sich alle Türen ein wenig voneinander unterschieden, allerdings nur in einer leichten Abstufung des geisterhaft schimmernden, silbernen Lichtes, das verriet, zu welcher Welt die jeweilige Tür führte.

Der Zauberer sagte: »Ich vermute, Ihr würdet sehr schnell sterben, wenn Ihr das unvorbereitet tätet. Ihr würdet durch den Spaltraum schweben, und das ohne Ryaths Fähigkeit, darin zu navigieren.«

Er blieb vor einer Tür stehen. »Wir müssen diese Abkürzung über einen Planeten nehmen, dadurch sparen wir fast die Hälfte unseres Weges nach Midkemia. Die Entfernung zwischen dieser und der nächsten Tür beträgt nur hundert Meter, doch gebt acht: Die Atmosphäre dieser Welt ist tödlich. Haltet die Luft an, weil Magie auf dieser Welt keine Macht hat und weil man sich mit ihr nicht schützen kann.« Er atmete bewußt durch, holte dann tief Luft und stürmte durch die Tür.

Tomas folgte als nächster, dann Pug, dann Ryath. Pug blinzelte und hätte fast ausgeatmet, als ihm scharfer Rauch in den Augen brannte und ihn sein unerwartetes Gewicht zu Boden zog. Sie hasteten über eine öde Ebene mit purpurfarbenen Felsen, während über ihnen in einem orangefarbenen Himmel dichter Dunst hing. Die Erde bebte, und aus Vulkanen brachen orangerote Lavaströme hervor, deren Glühen von den schwarzen Rauchwolken reflektiert wurde. Das heiße Innere dieser Welt floß an den Seiten der Berge herunter. Macros zeigte auf etwas; sie rannten auf einen Felsen zu und waren wieder in dem Gang.

 

Macros hatte seit Stunden in Gedanken versunken geschwiegen. Als er aus seiner Tagträumerei erwachte, verlangsamte er seinen Schritt und blieb vor einer der Türen stehen. »Wir müssen durch diese Welt hier. Das wird allerdings ein Vergnügen werden.«

Er führte sie durch das Tor auf eine grüne Lichtung. Durch die Bäume konnten sie den Tang des Meeres riechen und Wellen gegen die Klippen branden hören. Macros führte sie auf ein Steilufer, von dem aus sie einen überwältigenden Blick auf ein weites Meer hatten.

Pug betrachtete die Bäume um sie herum und bemerkte, daß sie denen auf Midkemia ähnlich waren. »Hier ist es fast so wie in Crydee.«

»Wärmer«, meinte Macros und sog den Duft des Ozeans durch die Nase ein. »Es ist eine wunderbare Welt, auf der niemand lebt.« Mit Sehnsucht in den Augen fügte er hinzu: »Vielleicht werde ich mich eines Tages hierhin zurückziehen.« Er schüttelte die nachdenkliche Stimmung ab. »Pug, wir sind jetzt unserer eigenen Epoche nah, haben sie jedoch immer noch nicht ganz erreicht.« Er sah sich um. »Wir sind etwa ein Jahr vor Eurer Geburt. Deshalb müssen wir die Zeit noch einmal kurz beschleunigen.«

Pug Schloß die Augen und begann mit einem langen Zauberspruch, der keinen sofort wahrnehmbaren Effekt hatte - nur die Schatten bewegten sich schneller über den Boden, weil die Sonne über den Himmel raste. Bald waren sie in Dunkelheit gehüllt, als die Nacht hereinbrach, dann folgte schon die Morgendämmerung. Die Geschwindigkeit der Zeitreise nahm noch zu, und aus dem Wechsel von Tag und Nacht wurde ein Flackern, das sich schließlich in ein gleichmäßiges Grau auflöste.

Pug machte eine Pause und sagte: »Wir müssen warten.« Sie setzten sich, und zum ersten Mal begriffen sie die ganze Schönheit der Welt um sich herum. Diese nüchterne Schönheit war eine Bezugsgröße, an der sie die seltsamen und großartigen Orte messen konnten, die sie kennengelernt hatten. Tomas schien zutiefst beunruhigt zu sein. »Bei all dem, was wir gesehen haben, frage ich mich, was jetzt auf uns zukommt.« Er schwieg eine Zeitlang. »Die Universen sind ... so unfaßlich, so riesig.« Er betrachtete Macros. »Welches Schicksal wird über dieses Universum hereinbrechen, wenn ein einziger kleiner Planet dem Valheru erliegt? Haben meine Brüder nicht auch schon früher dort geherrscht?« Macros sah Tomas mit einem Ausdruck tiefer Besorgnis an. »Das ist wahr, doch Ihr seid entweder ängstlich oder zynisch geworden. Und beides können wir nicht gebrauchen.« Er schaute Tomas scharf an, und entdeckte den Zweifel im Blick des Menschen, der ein Valheru geworden war. Endlich nickte er und sagte: »Die Natur des Universums hat sich nach den Chaoskriegen verändert. Die Ankunft der Götter brachte eine neue vielschichtige Ordnung der Dinge mit sich, wo vorher nur die beiden Urgesetze von Chaos und Ordnung galten. Die Valheru haben in diesem gegenwärtigen Schema der Dinge keinen Platz. Es wäre einfacher gewesen, Ashen-Shugar in unsere Zeit zu holen. Ich brauchte seine Macht, aber genauso brauchte ich dahinter einen Kopf, der die gleichen Ziele verfolgte wie wir. Ohne die Zeitverschränkung zwischen Ashen-Shugar und Euch, Tomas, wäre Ashen-Shugar wie seine Brüder gewesen. Und selbst mit dieser Verbindung wäre Ashen-Shugar nicht zu überwachen gewesen.«

Tomas dachte daran zurück. »Niemand kann sich den Wahnsinn vorstellen, den ich während des Krieges gegen die Tsurani durchmachen mußte. Es war knapp.« Seine Stimme klang ganz ruhig, doch man konnte den Schmerz heraushören, als er sagte: »Ich wurde zum Mörder. Ich habe Wehrlose umgebracht. Martin hätte mich fast getötet, so wild bin ich geworden.« Dann fügte er hinzu: »Und ich hatte erst den zehnten Teil meiner Macht. An dem Tag, als ich meine ... Gesundheit wiedergewann, hätte Martin mir seinen Pfeil durchs Herz jagen können.« Er deutete auf einen Stein, der einige Meter entfernt lag, und machte eine greifende Bewegung mit der Hand. Der Stein zerkrümelte zu Staub, als hätte Tomas ihn zerdrückt. »Hätte ich damals die Kraft gehabt, die ich heute besitze, dann hätte ich Martin getötet, ehe er den Pfeil losschicken konnte - nur durch meinen Willen.«

Macros nickte. »Ihr versteht jetzt, welche Risiken bestanden. Ein Valheru allein kann eine genauso große Gefahr wie ein ganzes Drachenheer sein. Er hätte im Kosmos uneingeschränkte Macht.« Seine Stimme klang beunruhigt. »Es gibt kein einziges Wesen, außer den Göttern, das den Valheru entgegentreten könnte.« Macros lächelte kaum merklich. »Außer mir selbst natürlich, doch auch mit meinen gesamten Kräften würde ich zwar einen Kampf mit ihnen überleben, aber ich könnte sie nicht besiegen. Ohne meine Kräfte ...« Er beendete den Satz nicht.

»Warum dann«, fragte Pug, »haben die Götter nichts unternommen?«

Macros lachte bitter und zeigte auf jeden von ihnen. »Was glaubt Ihr, was wir hier tun? Das ist ihr Spiel. Und wir sind nur die Figuren.«

Pug Schloß die Augen, und mit einen Mal wurde das graue Licht von normalem Tageslicht abgelöst. »Ich glaube, wir sind zurück.«

Macros ergriff Pugs Hand, schloß die Augen und fühlte den Fluß der Zeit durch die Wahrnehmung des jüngeren Zauberers. Nach einem Augenblick sagte Macros: »Pug, wir sind nahe genug an Midkemia, und du kannst jetzt eine Nachricht nach Hause schicken. Ich schlage vor, du versuchst es.« Pug hatte Macros von dem Kind und dem gelungenen Versuch, es zu erreichen, erzählt.

Pug schloß die Augen und versuchte, einen Kontakt mit Gamina herzustellen.

 

Katala sah von ihrer Stickerei auf. Gamina saß mit starren Augen da, als betrachtete sie etwas in weiter Ferne. Dann neigte sie den Kopf und schien zuzuhören. William las in einem alten, verstaubten Wälzer, den Kulgan ihm gegeben hatte, doch jetzt legte er ihn vor sich hin und sah seine Pflegeschwester scharf an.

Dann sagte der Junge leise: »Mama ...«

Vorsichtig tat Katala ihr Stickzeug zur Seite und fragte: »Was ist, William?«

Der Junge sah seine Mutter mit großen Augen an und sagte flüsternd: »Es ist... Papa.«

Katala ging zu ihm, kniete sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schulter. »Was ist mit deinem Vater?«

»Er spricht mit Gamina.«

Katala betrachtete das Mädchen, das völlig verzückt dasaß und alles um sich herum vergessen hatte. Langsam erhob sich Katala, ging hinüber zur Tür des Eßzimmers der Familie und öffnete sie leise. Sobald sie aus dem Zimmer war, begann sie zu laufen.

Kulgan und Elgahar saßen über einem Schachbrett, während Hochopepa zusah und den beiden unverlangte Ratschläge aufdrängte. Das Zimmer war völlig verqualmt, weil die beiden kleinen Zauberer, wie immer nach dem Essen, genußvoll ihre großen Pfeifen schmauchten, egal, was die anderen dazu meinten. Meecham saß in der Nähe und schliff sein Jagdmesser mit einem Wetzstein.

Katala stürzte herein und sagte: »Kommt schnell, alle.«

So dringlich, wie ihre Stimme klang, wagte es niemand, nach dem Warum zu fragen, sondern sie folgten ihr einfach durch den Flur in das Zimmer, wo William die kleine Gamina beobachtete.

Katala kniete sich vor dem Mädchen hin und fuhr mit der Hand vor seinen glasigen Augen hin und her. Gamina reagierte nicht. Sie war in eine Art Trance verfallen. Kulgan flüsterte: »Was ist das?«

Katala flüsterte zurück: »William sagt, sie redet mit Pug.«

Elgahar, der sonst so zurückhaltende Magier des Erhabenen Pfades, drängte sich an Kulgan vorbei. »Vielleicht kann ich hier etwas erfahren.« Er kniete vor William nieder. »Würdest du etwas mit mir zusammen tun?«

William zuckte unverbindlich mit den Schultern. Der Magier sagte: »Ich weiß, du kannst Gamina manchmal verstehen, genauso wie sie dich verstehen kann, wenn du mit den Tieren sprichst. Vielleicht kannst du mich mithören lassen, was sie sagt.«

William fragte: »Wie?«

»Ich habe mir genau angesehen, wie Gamina das macht, und was sie macht, und ich glaube, ich könnte dasselbe tun.« Und mit einem Seitenblick auf Katala fügte er hinzu: »Es ist ungefährlich.«

Katala nickte, und William antwortete: »Sicher. Habe nichts dagegen.«

Elgahar schloß die Augen und legte William die Hand auf die Schulter. Einen Moment später sagte er: »Ich kann nur etwas ... hören.« Er öffnete die Augen. »Sie spricht mit jemandem. Ich glaube, es ist Milamber«, sagte er, wobei er Pugs Tsurani-Namen benutzte.

Hochopepa sagte: »Ich wünschte, Dominic wäre noch nicht in sein Kloster zurückgekehrt. Er könnte sich vielleicht einmischen.«

Kulgan hob die Hand und brachte so Hochopepa zum Schweigen. Das Mädchen seufzte schwer und schloß die Augen. Katala wollte sie halten, weil sie glaubte, Gamina würde in Ohnmacht fallen, doch statt dessen riß das Mädchen die Augen weit auf, lächelte breit und sprang auf.

Sie tanzte fast im Zimmer herum, so aufgeregt war sie, und in Gedankensprache rief sie: Es war Papa! Er hat mit mir gesprochen! Er kommt zurück!

Katala legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter. »Ruhig, Tochter. Jetzt hör auf herumzuspringen und sag uns, was er gesagt hat, aber sprich richtig, Gamma.«

Zum ersten Mal in ihrem Leben sprach Gamina richtig laut - aufgeregt, wie sie war, schrie sie fast und lachte zwischendurch immer wieder. »Ich habe mit Papa gesprochen! Er hatte mich von irgendwoher gerufen!«

»Von wo?« fragte Kulgan.

Das Mädchen hielt in seinem aufgeregten Getanze inne und neigte den Kopf, als würde es nachdenken. »Es war ... eben irgendwo. Port war ein Strand, und es war wunderschön. Er hat nicht gesagt, wo es war.« Sie lief wieder hin und her und zerrte schließlich an Kulgans Bein. »Wir müssen gehen!«

»Wohin?«

»Papa will sich mit uns treffen. An einem Ort.«

»An welchem Ort, Kleine?« fragte Katala.

Gamina zuckte leicht zusammen. »Sethanon.«

Meecham sagte: »Das ist eine Stadt in der Nähe des Düsterwaldes, in der Mitte des Königreiches.«

Kulgan warf ihm einen finsteren Blick zu. »Das wissen wir.«

Meecham zeigte unverfroren auf die beiden Tsurani-Zauberer und meinte: »Aber sie nicht... Meister Kulgan.« Kulgan zog die buschigen Augenbrauen zusammen und räusperte sich, womit er kundtat, daß sein alter Freund recht hatte. Deutlicher würde er das Meecham nicht zeigen.

Katala versuchte, das Mädchen zu beruhigen. »Jetzt mal langsam, wer soll Pug in Sethanon treffen?«

»Wir alle. Wir sollen alle dorthin kommen. Sofort.«

»Warum?« fragte William, der sich vernachlässigt fühlte.

Plötzlich änderte sich die Stimmung des Mädchens, und es wurde still. Es riß die Augen auf und sagte: »Dieses böse Ding, Onkel Kulgan! Dieses böse Ding aus Rogens Vision! Es ist dort!« Sie umklammerte Kulgans Bein.

Kulgan sah die anderen an, und schließlich fragte Hochopepa: »Der Feind?«

Kulgan nickte und drückte das Mädchen an sich. »Wann, Kind?«

»Sofort, Kulgan. Er sagte, wir sollen sofort gehen.«

Katala sagte zu Meecham: »Sagt im Dorf Bescheid. Alle Magier sollen sich zur Abreise fertigmachen. Wir müssen nach Landreth aufbrechen. Dort besorgen wir uns Pferde und reiten nach Norden.«

Kulgan sagte: »Keine Tochter der Magie wäre auf so eine weltliche Form des Reisens verfallen.« Er fühlte sich plötzlich so unbeschwert, daß er Witze machte, um die Spannung zu brechen. »Pug hätte eine Magierin heiraten sollen.«

Katala kniff die Augen zusammen, weil sie jetzt nicht in der Stimmung für neckische Spielchen war. »Was schlagt Ihr vor?«

»Ich kann mich und Hocho mit meinem Sichtgrenz- Wanderungszauber in Sprüngen von bis zu drei Meilen fortbewegen. Das braucht zwar auch seine Zeit, doch wir sind viel schneller als zu Pferde. Am Ende können wir dann in der Nähe von Sethanon ein Portal öffnen, und Ihr und die anderen könnt von hier aus hindurchgehen.« Er wandte sich an Elgahar. »Dann habt Ihr genug Zeit für die Vorbereitungen.«

Meecham sagte: »Ich werde auch mitkommen, nur für den Fall, daß Ihr irgendwo zwischen Wegelagerern landet oder andere Schwierigkeiten bekommt.«

Gamina sagte: »Papa hat gesagt, ihr sollt noch andere mitbringen.«

»Wen?« fragte Hochopepa und legte dem Kind die Hand auf die zarte Schulter.

»Andere Magier, Onkel Hocho.«

Elgahar sagte: »Die Versammlung. Danach würde er wirklich nur fragen, wenn der Feind tatsächlich über uns kommt.«

»Und die Armee.«

Kulgan blickte in das kleine Gesicht. »Die Armee? Welche Armee?«

»Eben die Armee.« Das Mädchen schien am Ende seiner Geduld angelangt zu sein und stemmte die kleinen Fäuste in die Hüften.

Kulgan sagte: »Wir schicken der Garnison in Landreth eine Nachricht, und der in Shamata auch eine.« Er sah Katala an. »Da Ihr durch Heirat schließlich als Prinzessin dem Königlichen Haus angehört, wäre jetzt der richtige Moment, den Siegelring auszugraben, den Ihr normalerweise immer verlegt. Wir brauchen ihn, damit wir die Botschaften mit dem königlichen Siegel versehen können.«

Katala nickte. Sie drückte Gamina an sich, die sich wieder beruhigte, und sagte: »Bleib hier bei deinem Bruder.« Dann verließ sie eilig das Zimmer.

Kulgan blickte seine Kollegen aus Tsurani an. Hochopepa sagte: »Nun ist es soweit. Die Dunkelheit kommt.«

Kulgan nickte. »Nach Sethanon.«

 

Pug schlug die Augen auf. Er fühlte sich wieder erschöpft, doch nicht so sehr wie beim ersten Mal, als er mit dem Mädchen gesprochen hatte. Tomas, Macros und Ryath hatten den jüngeren Zauberer beobachtet und gewartet. »Ich glaube, ich konnte ihr genug erzählen, und sie wird die Anweisungen an die anderen weitergeben.«

Macros nickte zufrieden. »Die Versammlung wird sich mit den Drachenlords kaum messen können, falls es denen gelingen sollte, in diese Raumzeit einzudringen. Doch vielleicht können sie Murmandamus in die Enge treiben, und wir bekommen den Stein des Lebens vor ihm in die Hände.«

»Falls sie rechtzeitig in Sethanon eintreffen«, bemerkte Pug. »Ich weiß nicht, wieviel Zeit wir noch haben.«

»Das«, stimmte Macros zu, »ist ein Problem. Wir sind mittlerweile wieder in unserer eigenen Epoche, soviel weiß ich, aber aller Logik nach müssen wir in die Zeit nach Eurem Aufbruch zurückkehren, denn sonst riskieren wir ein schwieriges Paradoxon. Nur, wieviel Zeit ist verstrichen, seit Ihr aufgebrochen seid? Ein Monat? Eine Woche? Eine Stunde? Nun, wir werden es wissen, wenn wir dort angekommen sind.«

Tomas fügte hinzu: »Falls wir rechtzeitig da sind.«

»Ryath«, sagte Macros, »wir müssen einige Entfernung bis zum nächsten Tor zurücklegen. Hier auf dieser Welt gibt es keine Sterblichen, die dich bei der Verwandlung beobachten können. Würdest du uns tragen?«

Sofort begann Ryaths Körper hell zu glühen und nahm wieder seine Drachengestalt an. Die drei stiegen auf, und der Drache erhob sich in den Himmel. »Flieg nach Nordosten«, schrie Macros, und Ryath legte sich in die Kurve und machte sich in die angegebene Richtung auf.

Eine Weile lang schwiegen sie, während sie dahinflogen, denn niemand verspürte ein Bedürfnis zu sprechen. Sie schossen über die Klippen und den Strand, über gewellte Plateaus mit riesigen Büschen hinweg. Über ihnen strahlte eine warme Sonne.

Pug ging noch einmal alles durch, was Macros in den letzten vierundzwanzig Stunden gesagt hatte. Er benutzte einen Zauberspruch, damit er sprechen konnte, ohne zu schreien. »Macros, Ihr habt erzählt, selbst ein einziger Valheru wäre eine zu große Macht in diesem Universum. Ich verstehe nicht ganz, was Ihr damit meint.«

Macros antwortete: »Es geht um mehr als um eine Welt.« Er sah nach unten, während sie über einen riesigen Canon flogen, der in südwestlicher Richtung verlief und dann im Meer endete. Macros sagte: »Dieser wundervolle Planet ist genauso bedroht wie Midkemia, und Kelewan, und früher oder später alle anderen Welten. Sollten die Diener der Valheru diesen Krieg gewinnen, werden ihre Meister zurückkehren, und abermals wird im Kosmos das Chaos ausbrechen. Jede Welt wird dem Drachenheer zur Plünderung offenstehen, nichts wird ihrer mutwilligen Zerstörung standhalten, und niemand wird ihrer Macht etwas entgegensetzen können. Die Rückkehr in diese Raumzeit wird ihnen eine Quelle magischer Macht verschaffen, von der nie zuvor jemand auch nur geträumt hat, eine Macht, bei der selbst die Götter vor einem einzelnen Valheru zittern müßten.«

»Wie ist so etwas möglich?« fragte Pug.

Tomas antwortete. »Der Stein des Lebens. Er wurde für die letzte Schlacht gegen die Götter zurückgelassen. Wenn er eingesetzt wird ...« Er beendete den Satz nicht.

Sie flogen jetzt über hohe Berge und über eine Seenplatte, die im Norden von einer hügeligen Ebene begrenzt wurde. Im Westen ging gerade die Sonne unter. Pug fand es paradox, daß sie über die zerstörerischen Absichten der Valheru nachdachten, während diese faszinierende Landschaft unter ihm dahinzog. Macros zeigte auf einen Punkt und sagte: »Ryath! Dort, diese große Insel mit den beiden Buchten.«

Der Drache begann zu sinken und landete, wo Macros verlangt hatte. Sie sprangen vom Rücken der Drachendame herunter und warteten, bis sie wieder ihre menschliche Gestalt angenommen hatte. Dann führte Marcos sie alle zu einem großen Haufen Felsen neben einer Gruppe kiefernähnlicher Bäume. Sie standen vor einer weiteren Tür, die sich in einem großen Findling befand. Macros schritt hindurch. Tomas folgte, dann Pug. Als Pug in den Gang trat, hörte er das wütende, geisterhafte Flüstern einer grauenhaften Erscheinung und sah, wie dieses Wesen Macros zu Boden schlug.

 

Tomas zog seine Klinge und stürmte vorwärts, während der Lebensdieb noch mit Macros beschäftigt war. Er duckte sich, weil ihn ein weiteres dieser grauenerregenden Wesen von hinten packen wollte. Pug wurde von Ryath zur Seite gestoßen, als diese durch die Tür trat. Ein drittes Wesen griff nach dem Drachen in menschlicher Gestalt und packte die Frau oberhalb des Ellbogens. Ryath schrie vor Schmerz Dann holte Tomas mit der Klinge aus, und der getroffene Schreckenslord kreischte und zischte wütend. Er fuhr herum, um seinen Gegner ins Auge zu fassen. Dabei heulte er und schlug mit seinen Klauen um sich. Goldene Funken sprangen von Tomas' Schild, als er den Angriff abwehrte.

Ryaths blaue Augen glühten und wurden vor Ärger rot, und mit einem Mal begann der Schreckenslord, der ihren Arm hielt, zu kreischen. Stinkender grauer Rauch stieg von der Hand des Unlebenden auf, doch er konnte scheinbar nicht loslassen. Die Augen der Drachenfrau glühten immer noch, und sie stand bewegungslos da, nur ihr Körper bebte leicht. Der Schreckenslord schien zu schrumpfen, und seine gezischten Schreie waren kaum mehr als ein schrilles Pfeifen.

Pug beendete einen Zauberspruch, und der dritte Schreckenslord bekam eine Art Anfall. Er stolperte zurück, seine schwarzen Flügel zitterten, schließlich brach er auf den Steinen des Ganges zusammen. Dann schwebte er nach oben, und eine kleine Handbewegung von Pug war der einzige Hinweis auf den Zauber, den dieser anwendete. Pug machte eine weitere Handbewegung und stieß die Kreatur in einen Ort zwischen den Welten, wo sie im grauen Nichts verschwand Tomas schlug wieder und wieder zu, und der Schreckenslord vor ihm wich zurück. Jedes Mal, wenn sein goldenes Schwert in das schwarze Nichts traf, entwich der Kreatur zischend Lebenskraft. Schließlich schien das Wesen geschwächt zu sein und wollte die Flucht ergreifen. Tomas' Klinge erwischte das Ding, spießte es auf und hielt es bewegungsunfähig fest.

Während Pug zusah, vernichteten Ryath und Tomas die beiden anderen Kreaturen, indem sie ihnen die Lebenssäfte entzogen, die die Schreckenslords aus anderen Lebenden gesaugt hatten.

Pug begab sich zu Macros, der wie betäubt am Boden lag. Er half dem Zauberer auf und fragte: »Seid Ihr verletzt?«

Macros schüttelte den Kopf, um wieder klarzuwerden, und erwiderte: »Nicht ein bißchen. Diese Kreaturen können einem Sterblichen gefährlich werden, doch ich habe schon früher mit ihnen zu tun gehabt. Daß diese Ungeheuer vor dieser Tür postiert waren, zeigt nur, wie sehr die Valheru die Hilfe fürchten, die wir nach Midkemia bringen. Wenn Murmandamus Sethanon erreicht und den Stein des Lebens findet... nun, dann werden diese Unlebenden nur ein schwaches Abbild der Zerstörungswut sein, die entfesselt werden wird.«

Tomas fragte: »Wie weit ist es noch bis Midkemia?«

»Diese Tür.« Macros zeigte auf die Tür gegenüber jener, durch die sie eingetreten waren. »Dann sind wir zu Hause.«

 

Sie betraten eine riesige, kalte und leere Halle. Sie war aus massiven Steinen gebaut, die von meisterlichen Handwerkern zusammengefügt worden waren. Auf einem Podest am anderen Ende der Halle erhob sich ein Thron, und an beiden Wänden waren überall Nischen eingelassen, als hätten dort Statuen aufgestellt werden sollen.

Die vier gingen weiter, und Pug fragte: »Es ist sehr kühl hier. Wo auf Midkemia sind wir?«

Macros war scheinbar amüsiert. »Wir sind in der Festung von Sar-Sargoth.«

Tomas fuhr herum und blickte den Zauberer an. »Seid Ihr verrückt? Das ist die alte Hauptstadt des ursprünglichen Murmandamus. Soviel weiß ich auch über die Geschichte der Moredhel.«

Macros sagte: »Beruhigt Euch. Sie sind alle unterwegs, auf dem Marsch ins Königreich. Sollten uns hier noch irgendwelche Moredhel oder Goblins begegnen, so sind das Deserteure. Nein, hier können wir jedes Hindernis leicht aus dem Weg räumen. Erst in Sethanon müssen wir mit der letzten Herausforderung rechnen.«

Er führte sie nach draußen, und Pug taumelte vor dem Anblick, der sich ihnen bot. In alle Richtungen waren zehn Fuß hohe Pfahle errichtet worden, und auf jedem Pfahl steckte der Kopf eines Menschen. Es waren ungefähr tausend in jede Richtung. Pug flüsterte: »Um Himmels willen, wie kann etwas so Böses existieren.«

»Das hier fehlte Euch also noch in Eurem Wissen«, erwiderte Macros. Er sah seine drei Gefährten an und fuhr fort: »Es gab eine Zeit, in der Ashen-Shugar dies als notwendige Lektion abgetan hätte.«

Tomas ließ seinen Blick herumschweifen und nickte abwesend.

»Tomas, also auch Ashen-Shugar, kann sich an eine Zeit erinnern, als es im Universum noch keine moralischen Standpunkte gab. Die Frage, was richtig und was falsch sei, war noch nicht gestellt, es ging nur um die Macht. Im Universum hatten alle Arten die gleiche Einstellung, abgesehen derer von Aal, denn ihre Ansichten waren schon für die damalige Zeit eigenartig. Murmandamus ist nur ein Werkzeug, und er ähnelt seinem Meister.

Wesen, die viel weniger bösartig als Murmandamus waren, haben viel schlimmere Dinge begangen als diesen Akt der Barbarei. Doch sie tun es nur, weil sie wissen, daß ihre Taten von höheren moralischen Prinzipien bewertet werden. Die Valheru wissen nichts von Gut und Böse; sie sind nichtmoralisch, doch so zerstörerisch, daß wir sie als die Ausgeburt des Bösen betrachten müssen. Und Murmandamus ist ihr Diener, also ist auch er böse. Im Vergleich zu ihrer Dunkelheit ist er nur ein schwacher Schatten.« Macros seufzte. »Vielleicht ist es nur Eitelkeit, doch der Gedanke, gegen so etwas Böses zu kämpfen ... er macht mir die Last, die ich tragen muß, leichter.«

Pug holte tief Luft nach diesem Einblick in die gequälte Seele desjenigen, der die Welt beschützen wollte, die Pug lieb und teuer war. Schließlich fragte er: »Wohin jetzt? Nach Sethanon?«

Macros antwortete: »Ja. Wir müssen erfahren, was geschehen ist, und mit etwas Glück werden wir helfen können. Egal, was passiert, Murmandamus darf auf keinen Fall den Stein des Lebens erreichen. Ryath?«

Die Drachenfrau schimmerte und hatte bald wieder ihre eigentliche Gestalt angenommen. Sie stiegen auf, und Ryath erhob sich in den Himmel. Sie ging in die Kurve und flog nach Südwesten, und Macros bat sie darum, über Armengar zu halten, damit sie die Ausmaße der Zerstörung ausmachen konnten. Immer noch stieg aus dem Krater, wo sich früher die Zitadelle befunden hatte, schwarzer Rauch auf. »Was ist das für ein Ort?« fragte Pug.

»Einst hieß er Sar-Isbandia, in letzter Zeit wurde die Stadt Armengar genannt. Sie wurde von den Glamredhel erbaut, genauso wie Sar-Sargoth. Beide wurden nach dem Vorbild der Stadt von Draken-Korin gebaut, mit Wissen, das in fremden Welten erbeutet worden war. Es waren pompöse Bauwerke, die von den Moredhel nach verlustreichen Schlachten erobert wurden, zuerst Sar-Sargoth, das die Hauptstadt von Murmandamus wurde, dann Sar-Isbandia. Doch Murmandamus fiel in der Schlacht von Sar-Isbandia, in der die Glamredhel angeblich ausgelöscht wurden. Die Moredhel verließen beide Städte nach seinem Tod. Erst kürzlich sind sie wieder nach Sar-Sargoth zurückgekehrt. In Armengar lebten Menschen.«

»Es ist nichts übriggeblieben«, bemerkte Tomas.

»Der wiedergeborene Murmandamus hat einen hohen Preis gezahlt, um die Stadt einzunehmen«, stimmte Macros zu. »Die Menschen, die hier lebten, waren zäher und schlauer, als ich gedacht habe. Vielleicht haben sie ihn so hart getroffen, daß Sethanon noch steht, denn inzwischen muß er längst die Berge überquert haben. Also, Ryath! Auf nach Süden! Auf nach Sethanon!«